Du bist nie allein
Hineingeboren zu werden in eine Familie, in eine Gemeinschaft, in der Urgroßeltern, Großeltern, Eltern und Kind(er) gemeinsam unter einem Dach leben, ist ein Geschenk des Lebens.
Dazu noch das Gefühl vermittelt zu bekommen, geliebt und angenommen zu sein. – Was kann ein Menschlein mehr wollen?
Mit Liebe angeleitet zu werden, wie ein Feuer entzündet wird, mit Hingabe damit vertraut gemacht zu werden, wie großartig die Natur ist, wie man sich mit seiner Hände Arbeit von den Gaben der Natur ernähren kann, ist von unschätzbarem Wert.
Mir ist es so ergangen. Von Geburt an bis zum 6. Lebensjahr.
Du gehörst dazu
Im Alter von 6 Jahren schaffte der Umzug ins neu gebaute elterliche Haus am Rande eines kleinen Dorfes völlig neue Perspektiven.
Aufnahme fand ich auf einem nahgelegenen Bauernhof, auf dem ein Großelternpaar sowie Bauer und Bäuerin mit ihren drei Kindern – allesamt Mädchen – lebten und gemeinsam arbeiteten. Das „gemeinsam“ schließt die Kinder wie selbstverständlich mit ein. – Der Tiere wegen kein Urlaub, wenn, dann höchstens mal ein Wochenendausflug. – Jahraus, jahrein. – Und dennoch verspürte ich dort Zufriedenheit, lernte die unschätzbaren Werte von Freiheit und Selbstbestimmung kennen, die mich prägten und fortan begleiteten.
Es dauerte nicht lange und ich wurde bei allen sich bietenden Gelegenheiten als „unser Junge“ vorgestellt. – Ich war sozusagen Mitglied zweier Familien.
Alle Konstanten sind variabel
Ab dem Alter von 17 Jahren wurde das Leben unruhiger, aufregender. Neues faszinierte und leitete mich immer mehr.
Mit 20 dann ziemlich plötzlich der Auszug von „Zuhause“. – Es ging einfach nicht mehr, damals, für mich, mehr oder weniger fremdbestimmt zu sein. Zusammen mit meiner Freundin bezog ich eine Wohnung in der Stadt.
Es währte nicht lange und mir wurde klar, ein Zukunftsmodell war dies nicht. – Also die nächste Trennung innerhalb weniger Monate.
Jung hilft Alt und Alt hilft Jung
Also doch wieder zurück zu den Eltern? – Nein, das kam für mich nicht in Frage, zumal …
… meine Großmutter, die mittlerweile allein in meinem Geburtshaus wohnte, zum einen Gesellschaft vertragen und zum anderen Hilfe in Haus und großem Garten gebrauchen konnte.
Also zog ich wieder dort ein, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht hatte.
Was jetzt folgte, war eine Phase des sich gegenseitigen Helfens. Unaufdringlich, jederzeit, bedingungslos, mit Respekt und Akzeptanz, und – so empfinde ich es heute noch – mit Liebe und Hingabe. – Bis zum Tod meiner Großmutter.
Nicht immer reicht’s
Was hoffnungsvoll begann, mit einer großen, gemeinsam gefeierten Drei-Generationen-Hochzeit – Goldene Hochzeit der Großeltern und Silberne Hochzeit der Eltern meiner Frau plus unsere Grüne Hochzeit, sich dann über die Geburt unserer Tochter fortsetzte, landete nach wenigen Jahren im Aus.
Schon lange ahnend und spürend, trotz aller Bemühungen und Anläufe, die jeder auf seine Art und Weise unternahm, war das Ende wohl unausweichlich. – Im ersten Moment sehr schmerzvoll, jedoch mit Respekt und Achtung voreinander selbst beim Auseinandergehen.
Was ich aus dieser Zeit als größtes Geschenk mitgenommen habe, ist die Geburt unserer Tochter. Ein Augenblick, den ich – der ich froh bin, mir mein eigenes Geburtsdatum merken zu können – jederzeit auf die Minute genau benennen kann.
Alles verlieren, um alles zu gewinnen
Die Trennung von der Familie – meine Eltern eingeschlossen, die nicht verstehen konnten, dass ich mich hinter die Entscheidung meiner Frau, sich von mir zu trennen, gestellt hatte – ging einher mit einem Ortswechsel von Hessen nach Erfurt in Thüringen. – Ein regelrechter 0-Start.
Meine neue „Familie“ waren das Büroteam und liebe Menschen in einem Möbelgeschäft, einem Bistro und einem Bücher-Antiquariat.
Durch eine Fügung lernte ich dann meine spätere Frau Annelie kennen. – Im Puppentheater Erfurt schauten wir uns nebeneinander sitzend eine Vorstellung an. Und dann passierte das, was uns seitdem begleitet. Einer denkt es, der andere spricht es aus. So auch damals. – Mit einem Kaffee ging’s also los.
Wenige Tage später sprach ich, wohlwissend, dass Annelie nur im Viererpack, d. h. zusammen mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern und einem Kater zu bekommen war, das aus, was mir schon kurz nach unserer ersten Begegnung klar gewesen ist: „Ich kann mir vorstellen, mit Dir alt zu werden.“ – Der erste Erfolg: Ein fassungsloses Gegenüber, die wunderschönen Augen ganz weit aufgerissen, der zwischen uns auf dem Tisch stehende Aschenbecher leergepustet …
Der zweite Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Zwischendrin, d. h. während des als neu formierte Familie stattfindenden Urlaubs in Langenargen am Bodensee, begab ich mich auf MEINEN „Jakobsweg“: Von Langenargen nach Wasserburg (Bodensee) und wieder zurück.
Ziel: Herausfinden, ob ich die Kraft habe, zwei sich ständig in den Haaren liegende Halbwüchsige um mich zu haben.
Ihr wisst, zumindest ahnt ihr, wie es ausgegangen ist!
In diesem Urlaub war das Leben auch ein weiteres Mal der Bestimmer. Annelie und ich begegneten meinen Eltern, die im gleichen Zeitfenster wie wir, ohne dass wir davon wussten, ihren jährlichen Urlaub in Oberstdorf verbrachten. Sie hatten just an dem Tag einen Ausflug nach Lindau unternommen, an dem Annelie und ich dorthin gefahren waren. Auch gingen sie zur selben Zeit wie wir durch die Fußgängerzone der Innenstadt. – Ich habe noch immer das Bild vor Augen und lebhaft in Erinnerung, wie sich unsere Blicke trafen und sich die beiden Frauen, die sich noch nie zuvor begegnet waren, mit Tränen in den Augen spontan in die Arme nahmen. – Damit war das Ende der „Funkstille“ gekommen.
Fügung, Vorsehung, Berufung?
Wenn, wie im Jahr 2020, sich mit einem Mal so Vieles verändert, Zielsetzungen und Planungen „über den Haufen geworfen“ werden, sich regelrecht auflösen, gewohnte Türen zugehen und wohl auch verschlossen bleiben, sich dafür aber neue auftun, neue faszinierende Kontakte entstehen und die Gestaltung der Zukunft viel stärker in den Fokus rückt als bisher. – Dann wird der Blick auf das Leben ein anderer.
Wenn einem dann auch noch Menschen begegnen, große Herzen auf zwei Beinen, auf der Suche nach dem Weg zur Selbstfindung und zur Selbstliebe, mal halb zerrissen von Zweifeln und Ängsten, mal himmelhoch jauchzend vor Begeisterung immer mehr kleine Stücke vom eigenen Herzen verschenkend, ist das dann Zufall, Fügung oder Vorsehung?
Ich denke, es ist einfach so vom Leben gewollt.
Es ist der Moment, in dem sich der Kreis der Familie erweitert.
Es ist der Moment, in dem die Entscheidung fällt, mit aller zur Verfügung stehenden Energie der offensichtlichen Berufung zu folgen.
Es ist der Moment, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. – In bedingungsloser Liebe mit ganz viel Herz ❤️.
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